Startschuss für einen Linkshänder – ein Coachingprotokoll

Die Eltern haben ihren 22-jährigen Sohn geschickt. Sie machen sich große Sorgen um ihn. Er hängt zu Hause herum und langweilt sich. Seit er vor zwei Jahren das Ab- itur bestand, hat er sich noch nicht für eine Ausbildung oder für ein Studium entscheiden können. Immerhin hat er den Weg zu mir geschafft und sitzt jetzt vor mir. Ich kenne ihn schon seit seinen Kindertagen und darf ihn duzen.

C: Hi, Martin, wie geht’s?

M lächelt gequält: Ganz gut, nur im Augenblick gibt’s Stress zu Hause.

C: Ja, davon habe ich gehört. Ist es denn okay für dich, heute hier mit mir zu arbeiten?

M nickt: Ja, ja …

C: Weißt du was? Das können wir mit einem Muskeltest an

der Hand testen. Was meinst du, sollen wir? M zuckt mit den Schultern: Okay!

C: Okay! Dann sag mir bitte, bist du Rechts- oder Links- händer?

M: Ich mach alles mit links.

C: Gut, dann zeige ich dir jetzt, wie es geht. Du formst mit deinem linken Daumen und deinem linken Zeigefinger einen Ring.

Ich führe die Fingerhaltung vor.

C: Und ich werde versuchen, deinen Kreis, den du so fest wie möglich mit beiden Fingern zusammendrückst, mit meinen Händen aufzuziehen.

Martin schaut neugierig auf seine Hand und lächelt sieges- gewiss. Ich teste den Ring. Er hält fest.

C: Wow, du bist ganz schön kräftig. Jetzt testen wir etwas anderes. Halte mit der linken Hand wieder den Ring ganz fest geschlossen und drücke mit dem rechten Zeigefinger kurz in deinen Bauchnabel.

M ist leicht irritiert und sucht mit dem Zeigefinger seinen Bauchnabel. Ich ziehe seinen Ring aus Zeigefinger und Daumen ganz einfach auseinander.

C: Nimm den rechten Finger jetzt wieder vom Nabel weg.

M verblüfft: Was war das denn? Der Ring ist ja aufgegangen und ich hab genauso fest gehalten wie eben!

C: Der Nabel ist eine empfindliche Stelle. Ungewöhnlicher Druck von außen verursacht leichten Stress. Der Stress schwächt dich und wird über das Gehirn auf die Handmuskeln übertragen. Das ist der Grund, warum du den Ring in dem Augenblick der Schwächung nicht mehr halten kannst. So können wir erkennen, was für dich okay ist und was nicht!

M: Aha!

C: Darf ich noch einmal testen?

Martin nickt.

den Ring und sage: „Du hast Ärger zu Hause.“ Der Ring geht auf.

C: Bitte wieder feste drücken!

M: Ja, aber …

C: Der Stress hat mit deiner Ausbildung zu tun.

Der Ring geht wieder auf.

M macht große Augen: Was heißt das denn?

C: Da gibt es ein wie auch immer geartetes Problem mit deiner Ausbildung.

M: Ja, kann sein. Ich soll mich endlich für was entscheiden. Aber ich weiß nicht für was und wie und überhaupt …

C: Kann es sein, dass dir Motivation fehlt, Ansporn, Neu- gierde?

M verlegen lächelnd: Weiß nicht.

C: Wie stellst du dir denn deine Zukunft vor?

Martin zuckt mit den Schultern.

C: Interessiert dich überhaupt die Zukunft?

Martin schaut mich hilflos an.

C: Was hast du denn bis jetzt unternommen, um einen Aus- bildungsplatz zu bekommen?

M: Ich hab an einer Beratung für Abiturienten teilgenom- men, aber ansonsten …

Mir fällt die Augenbewegung bei Martin auf.

C: Sag mal, du bist Linkshänder. Das ist doch richtig?

M: Ja.

C: … und du bewegst die Augen, wie es ein Rechtshänder tun würde.

Martin ist verwirrt.
C: Weißt du was? Ich frage dich jetzt ein paar komische Sa- chen, kümmere dich nicht um den Inhalt, sondern antworte einfach spontan und schnell!

Martin wirkt neugierig.

C: Dann bilde wieder den Ring und drücke ihn so fest wie du kannst zusammen!

Martin schaut auf seine Hand und strengt sich an. Ich greife in den Ring hinein und sage: „Es ist okay, dass wir beide hier und jetzt zusammenarbeiten.“ Und versuche gleichzeitig, den Ring auseinanderzuziehen. Er hält. Das bedeutet, dass diese Aussage dem Klienten keinen Stress verursacht. Erst in dem Moment, wo ihn eine Aussage belastet, zeigt sich Stress und der Ring öffnet sich. Ich greife wieder in

C: Wie stellst du dir einen rosa Elefanten vor?

M grinst: Rosa Elefant?

Und seine Augen gehen nach rechts oben.

C: Okay, und was hast du an deinem letzten Geburtstag geschenkt bekommen?

Martin denkt angestrengt nach. Seine Augen wandern nach links oben.

C: Der Test ist beendet. Und jetzt kommt etwas anderes! Steh mal bitte auf und betrachte das Seil, das ich hier gerade auslege. Wenn du dir jetzt vorstellst, dass deine Vergangenheit und deine Zukunft auf diesem Seil abgebildet sind, wo befinden sie sich?

Martin überlegt, runzelt die Stirn, schaut nach rechts, nach links und wieder nach rechts. Er deutet auf das linke Ende des Seils und sagt: „Da wäre die Vergangenheit!“

C: Und die Zukunft?

M: Am anderen Ende rechts!

C: Wo würde die Gegenwart sein? M spontan: Na, hier in der Mitte!

C: Okay, toll. Das passt. Jetzt noch mal zu den Augenbewegungen. Bei Linkshändern kann es sein, dass sich die Augen beim Denken genau entgegengesetzt zu der Augenbewegung der Rechtshänder verhalten! Ich erkläre es dir. Wenn wir an etwas denken, drücken unsere Augenbewegungen aus, wo wir uns gerade gedanklich befinden – zum Beispiel, ob wir an etwas in der Vergangenheit denken, uns also erinnern, oder ob wir uns etwas in der Zukunft vorstellen. Nun kann es sein, dass aus irgendeinem Grund deine Augenbewegung und deine Gedanken gegeneinander laufen. Wenn du an die Zukunft denkst, gehen deine Augen nach rechts oben, das heißt, du bist innerlich in der Vergangenheit. Du als Linkshänder wohlgemerkt! Bei einem Rechtshänder wäre alles gut! Und dass deine Zukunft unter diesen Voraussetzungen irgendwie nicht besonders anziehend auf dich wirkt, ist nachvollziehbar.

M ratlos: Und was mach ich jetzt?

C: Die gute Nachricht ist, dass du die Chance hast, deine Au- gen zu trainieren! Sag mal: „In der Zukunft werde ich tolle Sachen unternehmen.“ Und schau dabei nach links oben.

Martin wiederholt den Satz und bemüht sich, die Augen nach links oben zu drehen. Es ist für ihn offensichtlich schwierig.

C: Okay, wir trainieren jetzt erst einmal die Augenbewe- gung an sich. Wenn ich sage „links“ drehst du die Augen nach links oben, bei „rechts“ nach rechts oben.

Ich übe mit Martin ein paar Minuten, bis seine Augen beweglicher werden.

C: Nun wollen wir die Übung mit gedanklichem Inhalt füllen. Immer wenn ich etwas sage, was auf die Zukunft hin- deutet, machst du die entsprechende Augenbewegung in die passende Richtung. Also, was hast du morgen vor?

M konzentriert und angestrengt: Ich werde morgen in die Stadt fahren.

Seine Augen drehen sich erst sehr zögerlich, dann eindeutig nach links oben.

C: Warst du gestern auch schon in der Stadt?

M dreht die Augen ganz langsam nach rechts oben: Ja!

Wir spielen noch ein paar Denkvarianten durch.

C: Wie fühlen sich die Augenbewegungen an? Hast du eine Veränderung verspürt?

M überlegt: Es ist sehr anstrengend für mich. Ja, irgendwie ist etwas verändert. Ich kann’s aber nicht beschreiben!

C: Darf ich dich noch einmal an der Hand testen? Martin nickt.

C: Okay, bitte schließe wieder den Ring von Daumen und Zeigef inger deiner linken Hand.

Ich teste den Ring. Er ist stabil.

C: Die gelernten Augenbewegungen sind okay für Martin. Der Ring hält.

C: Die gelernten Augenbewegungen passen zu deinen Gedanken. – Die gelernten Augenbewegungen sind jetzt vollkommen okay für Martin!

Der Ring hält beide Male.

M: Ich glaub, ich fühl mich besser.

C: Also dann, üben, üben, üben. Sag deinen Eltern, sie sol- len deine Augenbewegungen beobachten und kontrollieren. Zukunft nach links, Vergangenheit nach rechts!

M: Na, die werden staunen.

C: Apropos staunen. Ich möchte dir noch etwas zu Zukunft und Gegenwart zeigen.

Ich trete an das Flipchart.

C: Ich zeichne eine Linie, die eine Timeline für dich dar- stellen soll. Links ist die Gegenwart. Deine Eltern sind wie alt?

M: Papa ist 60 Jahre, meine Mutter fünf Jahre jünger.

C: Und sie kommen im Augenblick für deinen Lebensunterhalt auf?

M windet sich: Na, ja!

C: Schau mal. Heute sind deine Eltern in der Lage, dich zu unterhalten.

Ich markiere einen Punkt links am Anfang der Linie.

C: Nun gehen wir zehn Jahre weiter. Deine Eltern sind 70 und 65 Jahre alt und müssen dich noch immer von ihrer Rente unterstützen. Irgendwie könnte das ja gehen, allerdings nur unter extremen Einschränkungen für alle! Kein Auto für dich, Urlaub fraglich, Freundin schwierig …

Martin nimmt Abstand vom Flipchart und wirkt beeindruckt.

C: Okay, gehen wir noch zehn Jahre weiter. Du bist dann 42 Jahre alt und immer noch abhängig von zu Hause. Das Problem wird sein, dass deine Eltern ihre Rente entweder für Pflege oder Heim aufbringen müssen oder nicht mehr leben. Das heißt für dich ganz einfach, die Finanzierung deines Lebensunterhalts ist weggefallen. Du wirst nach heutigen Maß- stäben Sozialhilfe Regelbedarfsstufe 1 gleich 391 Euro be- kommen. Du kannst dir ja schon mal ausmalen, was das für ein Leben wäre. In den sogenannten besten Jahren …

Martin schaut entsetzt auf das Flipchart. Er ist schockiert und lässt seinen Kopf langsam sinken.

C: Kopf hoch, junger Mann! Du hast deine Zukunft noch vor dir. Du kannst noch wählen. Willst du abhängig bleiben oder willst du frei sein? Stell dir einmal das Gefühl vor, ei- genes Geld zu verdienen. In den Urlaub fahren zu können, in ein Autohaus zu gehen und dir selbst ein Auto aussuchen zu können. Deine Traumfrau kennenzulernen und sie von deinem Geld ausführen zu können …

Martin hebt den Kopf, schaut mich an und sagt mit belegter Stimme: „Ja!“

C: Martin, und wenn du die Augenbewegungen durch fleißiges Üben zur unbewussten Routine trainieren kannst, wird sich deine Sicht auf die Zukunft zum Positiven ändern und du wirst dich gut fühlen!

M nickt: Ja, ich hab’s kapiert.

Ich gebe Martin ein Blatt mit Lebenslauf und Bild von Albert Einstein in die Hand.

C: Ich habe noch ein Zitat von Albert Einstein für dich. „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft. Denn in ihr gedenke ich zu leben.“ Schau dir seinen Lebenslauf an, und du wirst sehen, dass auch Spätstarter eine gute Chance haben.

Zum Schluss haben wir an den Potenzialen gearbeitet, die in Martin schlummern. Mithilfe des O-Ringtests fanden wir verstärkende Ressourcen, die wir mit dem wingwave-Ressourcencoaching in mehreren Sets intensivierten. Sie können ihm nun auf seinem zukünftigen Weg sehr nützlich werden.

Zwei Monate später hörte ich von einem seiner Freunde, dass Martin eine Ausbildung angefangen hat und zu Hause ausgezogen ist.

Gabriele Lönne

 

KuS-05-2014_Loenne